Wie der Lieblingsjapaner zum Lieblingsjapaner wurde

oder: Eine norwegische Bildergeschichte

Von der leeren Wohnheimsküche zum gemütlichen Nachmittag mit Lieblingsjapaner

19.11.2017

Wenn ich erzähle, dass der Lieblingsjapaner mein Lieblingsjapaner ist, werde ich oft gefragt, woher wir uns denn kennen und wie das alles kam. Das hier ist unsere Geschichte.

Eigentlich hat alles damit angefangen, dass ich nach dem Abitur für ein Jahr als Freiwillige an einer inklusiven Schule in Norwegen gearbeitet habe. Diese Zeit hat mich so beeindruckt und geprägt, dass ich unbedingt auch während meines Studiums wieder nach Norwegen gehen wollte, diesmal mit Hilfe des "Erasmus"-Austauschprogrammes. Nach einigem Hin- und Her habe ich dann entschieden, mich für die "Universitetet i Nordland" zu bewerben, einer kleinen Universität in der nordnorwegischen Stadt Bodø. Und dann einige Monate später, besser gesagt am 07.08.2015, war ich dann tatsächlich dort, am gefühlten Ende der Welt, zusammen mit rund 100 anderen Austauschstudenten aus der ganzen Welt verstreut. 2 davon sollten meine - willkürlich ausgewählten - Studentenwohnheims-Mitbewohner für das nächste Jahr meines Lebens sein. (Darüber nachzudenken, wie mein Leben jetzt aussähe, wenn ich nie in Norwegen als Freiwillige gearbeitet hätte, wenn ich mich nicht für Nordnorwegen entschieden hätte oder mir andere Mitbewohner zugeteilt worden wären, finde ich ziemlich verrückt...)

Das waren Hajer aus Libyen und Yusuke aus Japan und damit "leider" keine Norweger, wie ich am Anfang gehofft hatte (Damit werde ich heute noch vom Lieblingsjapaner aufgezogen, ich wusste es zu dem Zeitpunkt einfach nicht besser...). Mein erster Eindruck der Beiden hätte nicht unterschiedlicher sein können. Hajer - weltoffen, engagiert, intelligent, kontaktfreudig, energetisch, wortgewandt. Dagegen Yusuke - freundlich aber zurückhaltend, still, schüchtern und durch mangelnde Sprachkenntnisse weitestgehend wortlos. Alle ersten Versuche der Kontaktaufnahme scheiterten mit gegenseitigem Nicht-Verständnis oder mussten schleppend über Google-Translate ausgetragen werden. Einen Screenshot aus dieser Zeit habe ich lustigerweise noch auf meinem Computer gefunden, "Gehst du in einen Norwegisch-Kurs?" soll das Ganze heißen. Erschwerend dazu kam, dass ich mir den Namen meines japanischen Mitbewohners einfach partout nicht merken konnte (nachzulesen hier). All die peinliche Stille und die halbabgebrochenen Sätze vermittelten mir das Gefühl, der japanische Mitbewohner sei zwar freundlich, aber eher still und bräuchte ausreichend Zeit für sich selbst. Ich wollte nicht stören oder mich aufdrängen und blieb deswegen ebenfalls still. Außerdem muss ich wohl gestehen, dass die Unterhaltung mit meiner Mitbewohnerin aus Libyen sich einfach einfacher gestaltete. Der Wendepunkt dieser Anfangssituation war ein Spieleabend mit internationaler, 

neugewonnener Freundesgruppe in der Wohnheimsküche. Direkt von der Küche abgehend: Die geschlossene Tür des japanischen Mitbewohners. Auf der einen Seite der Tür Stille, auf der anderen Seite ausgelassenes Gelächter. Irgendwie tat mit der Mitbewohner Leid, aber irgendwie wollte ich ihn auch nicht zum Mitmachen "überreden" wenn er gar keine Lust hätte - in meinem Kopf war es (warum auch immer) völlig klar, dass er seine Ruhe haben wollte. Ein neuer Freund aus Venezuela - José, ganz links auf dem Foto - sah das Anders. In seiner überschwänglichen Art, versuchte er mich zu überreden, meinen Mitbewohner doch zum Spieleabend dazu zu holen. Ich zierte mich, viel zu unsicher war ich mir bezüglich seiner Reaktion. Während ich noch zögernd vor der geschlossenen Tür herum stand, klopfte José irgendwann 

einfach an und zwang mich damit zu handeln. Und: Überraschung! Natürlich war der japanische Mitbewohner nicht genervt von unserer Einladung, sondern freute sich darüber, trotz seiner Sprachlosigkeit eingeladen worden zu sein. Eigentlich hätte ich es mir denken müssen... Das war der Anfang von unserem gemeinsamen internationalen Freundeskreis. Am Anfang noch als stiller Beobachter wurde mein Mitbewohner dann glücklicherweise sehr schnell in die Gruppe integriert und war regelmäßig bei gemeinsamen Unternehmungen dabei,... wohl auch ein Grund dafür, dass sich sein Englisch rasend schnell verbesserte. Das Foto oben am Fjord ist übrigens das erste gemeinsame Foto, das von uns zusammen entstanden ist. Man beachte den noch(!) typisch japanisch sauberen Kurzhaarschnitt und den gefühlt meilenweiten Abstand zwischen uns ;)

Tja, und so kam es, dass wir eigentlich jeden Tag Kontakt hatten, sei es bei zufälligen Begegnungen in der gemeinsamen Küche oder bei gemeinsamen Unternehmungen mit Freunden. Trotzdem waren da auch noch so viele andere neugewonnene internationale Freunde mit denen es viel zu bereden gab, weswegen der japanische Mitbewohner zu diesem Zeitpunkt ehrlich gesagt weiterhin nur einfach ein weiterer Freund in der Gruppe war. 

Das Ganze änderte sich erneut mit dem Auszug unserer libyschen Mitbewohnerin Hajer in der Mitte des ersten Austausch-Semesters. Während dem laufenden Semester fand die Universität keinen neuen dritten Mitbewohner für die Wohnung, wodurch der japanische Mitbewohner und ich bis zum Beginn des zweiten Semesters nur noch zu zweit zusammen wohnten. Während die Gespräche mit der wortgewandten Hajer zuvor viel Zeit in der Wohnung in Anspruch genommen hatten, blieb auf einmal sehr viel mehr Zeit für Gespräche mit dem stilleren japanischen Mitbewohner. Der hat mir im Nachhinein mal erzählt, dass er nach Hajers Auszug Angst hatte, ich könne mich mit ihm allein in der Wohnung langweilen und bemühte sich somit ab dem Zeitpunkt umso mehr, mich auch auf Englisch im wahrsten Sinne des Wortes zu "unterhalten". 

Automatisch verbrachten wir bis Weihnachten immer mehr Zeit zusammen, unterhielten uns in der gemeinsamen Küche stundenlang über kulturelle Unterschiede, falteten Origamikraniche und erzählten uns Geschichten von Zuhause. Während ich vor meinem Auslandsjahr in Norwegen gerade noch so sagen konnte, dass Japans Hauptstadt Tokyo heißt und man traditionellerweise Kimono trägt, vervielfachte sich mein Wissen und damit auch Interesse für dieses fremde Land und meinen Mitbewohner auf einmal in sekundenschnelle. Plötzlich gab es in meinem sonst so norwegischen Leben ziemlich viel Japan: Als ich vom Training nach Hause kam, hatte der japanische Mitbewohner japanisch für mich gekocht, das Spültuch verwandelte sich um mich zu überraschen in eine Origami-Ente und


der internationale Freundeskreis feierte japanische Traditionsfeste nach. Während meines weihnachtlichen Deutschland-Aufenthaltes erzählte ich (für mich unbewusst!) dann wohl auffallend oft "Und mein Mitbewohner hat gesagt, in Japan 

ist das so und so..." Zurück in Norwegen und damit im neuen Semester konnte dann auch eine neue dritte Mitbewohnerin nichts mehr an der mittlerweile immer enger gewordenen Freundschaft ändern. Zufälligerweise kamen dann noch unsere Mütter (+ seine Schwester) gleichzeitig zu Besuch in den hohen Norden und lernten sich gegenseitig unter viel Gestikulation und Gelächter kennen. Die japanische Mutter bedankte sich bei mir dafür, dass ich ihrem Sohn "bei der Integration geholfen hatte" und überhäufte mich mit Geschenken. Das auch der japanische Mitbewohner anscheinend so viel von mir Zuhause erzählt hatte, hat mich schon damals überrascht. Als meine Mutter mich dann auf den "hübschen japanischen Mitbewohner" ansprach, stritt ich jedoch alles ab. Im Nachhinein war es wohl für alle Umstehenden sehr viel früher klar, als für uns... ;)

Ganze zwei Monate später konnte aber auch ich irgendwann nicht mehr einfach verdrängen, was da war. Nur noch drei gemeinsame Monate waren vor uns, und so viele Überlegungen,... ob sich das alles "lohnt" weil die Zeit doch sowieso fast vorbei ist und was mit der Freundschaft ist, wenn das alles doch nur einseitig sein sollte. Viel lauter war dann aber noch der Gedanke "Du wirst es eines Tages bereuen, wenn du nichts unternimmst!" 

Und so kam es zu meinem (unbewusst ziemlich japanischen) "Kokuhaku"/Geständnis... die Antwort darauf lies mich tatsächlich aus allen Wolken fallen. Denn sie war positiv :) Wobei das alles fast nochmal eine eigene Geschichte ist :) 

Kurz darauf entstand dieses schöne Foto: Yusuke mittlerweile mit Bart und langen Haaren, der "höfliche Zwischenabstand" dahingeschmolzen, beide noch etwas unsicher und gleichzeitig über das ganze Gesicht grinsend. Das ist das erste Bild auf dem ich ohne japanischen Mitbewohner zu sehen bin - dafür aber mit Lieblingsjapaner :) 

 

Wer sich durch diesen, eigentlich viel zu lang geratenen, Text gekämpft hat und immer noch nicht genug gelesen hat, kann die ganze Geschichte stückchenweise (und noch etwas unwissend-unreflektierter ;) ) im alten Norwegen-Blog nachlesen: isabella-in-norwegen.jimdo.com


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Kommentare: 2
  • #1

    Tara (Samstag, 02 Dezember 2017 05:27)

    Was für eine schöne Geschichte. Und so schicksalhaft!
    Den Gedanken "Was wäre, wenn ich das und das nicht gemacht hätte..." kenne ich sehr gut. Oft leitet uns unser Leben echt auf Wege, die wir im Nachhinein kaum logisch nachvollziehen können, die uns allerdings unglaublich schöne Dinge bescheren - Dein Lieblingsjapaner gehört da ganz klart dazu! :)

    Ich wünsche euch beiden weiterhin ganz viel Glück, auch mit eurer Fernbeziehung natürlich.
    Und falls es dich irgendwann mal wieder nach Japan verschlägt... sag auf jeden Fall Bescheid! ;)

  • #2

    Isabella (Samstag, 02 Dezember 2017 12:48)

    Manchmal ist es echt verrückt, wie der Zufall so spielt :) Das fand ich damals auch so schön auf deinem Blog zu lesen!

    Danke für die lieben Wünsche! Ich bin nächstes Frühjahr im März/Anfang April wieder in Tokyo! Wenn du da zufällig auch mal vor Ort bist, sag gerne Bescheid! Oder ich frage den Lieblingsjapaner, ob er nicht mal wieder Lust hat seinen Bruder in Shizuoka zu besuchen ;)